Achtsamkeit ist das natürliche Gebet der Seele

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Behandle alle so,
als wäre es heiligstes Altargerät.
Benedikt von Nursia

Ein Beispiel aus anderem Feld

Eine Lehrerin berichtet in der geistlichen Begleitung von ihren Schwierigkeiten in der Schule: „ Die Klingel schellt. Ich eile, weil gerade noch in einem Gespräch mit einem Kollegen, mit dem ich demnächst auf Klassenfahrt gehe, zu meinem Klassenraum. Schon von Weitem höre ich einen hohen Lärmpegel. Ich öffne die Tür, stehe im Raum, versuche Ruhe zu schaffen, um mit dem Unterricht beginnen zu können. Oft dauert es weit in die Stunde hinein, bis ich bemerke, dass ich innerlich noch gar nicht wirklich im Klassenraum bin. Es ist, als funktioniere da ein Teil in mir wie mechanisch, aber ich selbst bin nicht dabei. Das sind die Tage, an denen die Schülerinnen und Schüler unruhig, laut, undiszipliniert sind und Unterrichten fast nur „Domtieren“ bedeutet. Danach fühle ich mich wie leblos, ausgelutscht, fast wie missbraucht und kann mit mir selbst nichts mehr anfangen.“ In der spirituellen Begleitung ging es dann um die Frage, wie es möglich sein könnte, dass diese Lehrein sich selbst mit ins Klassenzimmer nimmt, wie sie die Achtsamkeit für sich selbst und ihre Schülerinnen und Schüler aufrecht erhalten kann. Wie wäre es, wenn es einen Moment der Sammlung, der Achtsamkeit gäbe, bevor sie das Klassenzimmer betritt? Aber dafür ist kein Zeit, sagte sie, der Druck wäre immens unter dem sie dort stünden. Es müsste also eine Winzigkeit, ein kleiner Moment sein, der sich organisch in den Ablauf einpasst und doch eine kurze Unterbrechung darstellt. Die Türklinke! Es wird die Idee geboren die Hand an der Türklinke wirklich zu spüren, leibhaftig und darin einen Augenblick des bewussten Kontaktes zu sich selbst aufzubauen. Sie will es ausprobieren. Als sie zum nächsten Gespräch kommt berichtet sie strahlend von ihren Erfahrungen: Ja, es sei ihr schwergefallen dem Sog zum sofortigen Intervenieren in der Klasse zu widerstehen, aber schon nach kurzer Zeit hätte sie geradezu ein Bedürfnis verspürt, die Schwelle wirklich in dieser bewussten Weise zu überschreiten, sich darin zu sammeln und mitzunehmen. Dadurch sei das Gefühl sich selbst zu verlieren stark vermindert, sie sei gesammelter, präsenter. Am erstaunlichsten sei aber die Wirkung auf die Klasse gewesen: Es sei, als habe diese etwas „gerochen“, denn sie wurde von allein ruhig, so dass der Unterricht in gesammelter und freundlicher Weise beginnen konnte. Ja, sie habe einen direkten Zusammenhang zwischen ihrer Sammlung und Präsenz und der Atmosphäre in den Klassen erlebt.

Übertragbar auf das Feld der Pflege?

Gibt es im Bereich der Pflege ähnliche Erfahrungen? Ich bin mir dessen sicher! Wie also gelingt es ihnen bei der Arbeit bei sich zu sein, den Kontakt zu sich selbst nicht zu verlieren? Und wenn dies geschieht, wie bemerken sie dies? An welchen körperlichen Reaktionen wird ihnen dies deutlich (vielleicht neigen Sie dann zu Verspannungen, Kopfschmerzen, Magenproblemen...)? Welche Gefühle und Empfindungen stellen sich dann ein (Überforderung, depressive Verstimmung, Außer-sich sein, Niedergeschlagenheit, Bedürftigkeit...)? Welche Gedanken begleiten diesen inneren Kontaktverlust (Mir ist alles zuviel, die Patietinnen und Patienten sind heute wieder furchtbar und nerven ohne Ende, die Stationsleitung hat es auf mich abgesehen, ich schaffe das alles nicht mehr...) Und natürlich die Frage: Wann bemerken sie diesen inneren Kontaktabbruch? Gelingt dies noch in der Situation oder vielleicht erst nach langen Phasen, in denen sie auch am „Feierabend“ nichts mit sich anzufangen wussten? Klar ist auf jeden Fall: Der Dienst in der Pflege, eingespannt zwischen Pflegedienstplanung und aktuellen Anforderungen verlangt täglich hundertfältig neues Einstellen auf direkten Kontakt und Kommunikation und führt deshalb stets zu der
Gefährdung sich dem anderen ganz zuzuwenden und sich selbst dabei aus der Bewustheit zu verlieren.
Verrohung – der Schatten der Pflege als innerer Kontaktverlust
Meine erste Erfahrung als Altenpflegehelfer am ersten Morgen meiner Tätigkeit um 6.30 Uhr: „Mensch habe ich Glück gehabt. Wir haben es gerade noch geschafft, dass uns Frau Müller nicht über die Wupper ging. Jetzt ist der Tagdienst dran.“ sagte ein Pfleger der Station, der gerade aus der Nachtwache kam und auf „seiner“ Station noch einen Kaffee trank. Ich war geschockt! Wo bin ich hingeraten? Später verstand ich: Es hätte Überstunden bedeutet und er hatte schon 24 Stunden gearbeitet, wäre für das Waschen der Leiche zuständig gewesen. Es war eine Schutzfunktion auch - gegenüber dem Thema Tod und Sterben und der Auseinandersetzung damit insgesamt.
So ist Verrohung in der Pflege nicht primär ein ethisch – moralisches Thema, zuallererst handelt es sich um einen inneren Kontaktabbruch, den Verlust der Verbundenheit mit mir selbst, Verlust meiner eigenen Ganzheitlichkeit. Es ist also nicht hilfreich, mit erhobenem Zeigefinger zu reagieren, anzuklagen oder zu verurteilen, sondern nach den Bedingungen
Ausschau zu halten, welche es den Pflegenden ermöglichen diesen inneren Kontakt aufrecht zu erhalten. Dies lenkt den Blick einerseits auf die strukturellen Bedingungen (eine Perspektive, der ich hier nicht weiter folgen möchte, welche aber unverzichtbar ist) und andererseits auf die innere Verankerung
Innere Verankerung als spirituelle Aufgabe
Das wichtigste Instrument der Pflege sind die Personen der Pflegenden, ihre Präsenz, ihr authentisches Dasein, ihre Zugewandheit. So sind Professionlisierungskonzepte, die einseitig Wert auf die Fähigkeit der Abgrenzung legen, fragwürdig, denn letztlich geht es um die Balance von Nähe und Distanz, von Einlassen und Abgrenzung. Damit aber kommt der eigenen inneren Verankerung grundsätzliche Bedeutung zu. Ohne inneren Kontakt zu mir selbst kein Kontakt zum anderen. Wer gibt, was er nicht hat, ist ein Dieb. Wer sich ohne eigenen inneren Kontakt anderen zuwendet wirkt leicht maskenhaft und höhlt sich selbst aus, lebt auf Kosten seiner eigenen Menschlichkeit, was sich in den häufigen „Burn-out-Syndromen“ und insgesamt hohen Krankenständen in Pflegeberufen ausdrückt.
Die spirituellen Traditionen legen deshalb großen Wert auf die Verankerung im Augenblick und die Einübung in die Achtsamkeit. Wie also kann es gelingen, in die innere Haltung der beiden Zitate am Anfang dieses Artikels hineinzuwachsen? Wie gelingt es, nichts als selbstverständlich zu betrachten, sondern in allem zu sehen, was es im Tiefsten ist:
Manifestation, Ausdruck der Liebe Gottes. Christinnen und Christen glauben, dass alles Leben seinen Ursprung in Gott hat, Geschenk und Kostbarkeit ist und auch das Dunkle, das Leid, der Schatten verhindertes Licht, aufgehaltene Liebe ist. Wie aber kann es gelingen die Welt mit diesen Augen zu sehen? Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar, sagte Exupery, man sieht nur mit dem Herzen gut. Die christliche Tradition unterscheidet in das Auge des Leibes, des Geistes und des Herzens. Das Herz ist in der biblischen Tradition aber der Ort des tiefsten Wesens, des tiefsten Inneren, da, wo wir -jenseits unserer Verstrickungen und Verwicklungen – uns selbst am nähesten sind, weil da Gott in uns wohnt. Deshalb ist der eigene innere Kontakt von so großer und grundsätzlicher Bedeutung, weit über die Pflege hinaus.
Innere Verankerung als Aufgabe der Pflegenden:
Wie könnte das praktisch aussehen?
Kehren wir zu dem Beispiel des Anfangs zurück. Was kann helfen den inneren Kontakt bei der Arbeit nicht zu verlieren? Für die Lehrerin war es die Türklinke, welche für sie zum Tor achtsamen Daseins wurde. Es handelte sich also um einen bewussten Übergang und Anfang, eine sinnliche (taktile) Selbstwahrnehmung, einen Moment der Unterbrechung und eine innere Vorbereitung. Damit sind die wesentlichen Elemente einer Kulturpflege des inneren Kontaktes auch schon gekennzeichnet. Sicher nicht zufällig, dass damit auch die Grundelemente christlicher Lebenskultur genannt sind.
1. Übergänge bewusst vollziehen – Rhythmen leben
Dies gilt nicht nur für die großen Rhythmen des (Kirchen-)Jahres, der (Kirchen-) Jahreszeiten, der Woche (ohne Sonntag gibt es nur Arbeitstage) und des Tages, sondern hier liegt auch ein Schlüssel für die Dienstzeiten selbst: Wie beginne ich meine Dienstzeit? Was brauche ich, um meine Arbeit gesammelt beginne zu können? Was hilft mir, den Dienst gesammelt anzufangen, wohlwollend im Blick auf mich selbst, wohlwollend im Blick auf die Menschen, mit denen ich jetzt zu tun bekomme. Wie komme ich zur Arbeit und hat dieses Kommen eine Wirkung auf den Velauf des Tages? Daneben gibt es In fast allen Teams eine Teamkultur, seien es Rituale beim Umkleiden, sei es die gemeinsame Zigarette oder der Kaffee bei Dienstbeginn. Wie geschieht dies in ihrem Team und trägt dies zu ihrer eigenen inneren Verankerung bei? Was hilft ihnen, sich in der oben beschriebenen Haltung der Achtsamkeit und Wertschätzung zu verankern? Manche Teams beginnen die Schicht mit einem Moment der Stille, einem Text, einem Ritual zu Arbeitsbeginn, die Einzelnen verbinden sich darin zu einem Team, welches einander unterstützt, fördert, trägt. Ebenso gilt aber auch: Wie beenden wir den Dienst, welche Möglichkeit, welche Rituale der Entlastung am Ende haben wir als Einzelne und als Team zur Verfügung?
2. Die Unterbechung
Die Anforderungen zwischen Dienstbeginn und Ende sind hoch. So braucht es sicher zusätzlich zu den eigentlichen Pausen immer wieder Momente der Unterbrechung. Wie bei der Lehrerin können diese nicht groß sein: Vielleicht auch hier die Türklinke beim Eintreten in ein Zimmer, ein bewuster Atemzug beim Hören einer Zimmerklingel oder des Telefons, ein Blick auf die Person, mit der ich jetzt zu tun habe. Diese Unterbrechungen haben verbindende, heilende Qualität. Sie bringen mich aus der Zerissenheit der vielfältigen Anforderungen in den einen, jetztigen Augenblick und bringen mich damit in Kontakt mit mir selbst..
3. Sinnliche Wahrnehmung
Es hat sich als hilfreich erwiesen, das aufmerksame Begehen von Übergängen und die heilsamen Unterbrechungen an eine sinnliche Wahrnehmung zu binden; die Türklinke inder Hand, die Atembewegung, das Lauschen nach Innen, das Schauen auf einen Menschen, das Hören des Klingeltons... Was könnte in ihrem Alltag ein geeigneter Focus der Aufmerksamkeit sein, welcher sie wieder in inneren Kontat mit sich selbst bringt? Hier gibt es wohl unbegrenzte Möglichkeiten. Entscheidend für die Wahl ist Wirkung auf ihre Seele.
4.Das Wunder des Lebens feiern
Mit der Einübung in eine solche Lebens- und Dienstkultur wächst die Wertschätzung für den Augenblick, für das Wunder, welches ich selbst lick und jeder Atemzug bedeuten. Dies lässt uns den Wert der Zeit ermessen, die uns füreinander gegeben wird. Und dann scheint auf, wovon Benedikt von Nursia und Thich Nhat Hanh sprechen: die Feier des Sakramentes des Augenblicks. Denn ihnen geht es nicht um eine Leistungsanforderung an Menschen in spiritueller Nachfolge, sondern um Einweisung in das Wunder des Lebens, um die Feier des lebens im Alltäglichen.