Achtsamkeit – Tor zur Erfahrung der Verbundenheit und Einheit

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Die spirituelle Dimension der Achtsamkeit

Vorbemerkung:

Ralf Schneiders Artikel „Achtsamkeit – Modischer Hype oder Evidenz basierte Psychotherapietechnik?“ beschreibt Wirkungen der Achtsamkeit aus der Perspektive der Psychotherapie. Dabei hebt er die Milderung emotionaler Impulsivität, die Erhöhung der Stresstoleranz, die Distanzierung von inneren Antreibern, die Entwicklung einer beobachtenden, nicht wertenden Haltung und die Sensibilisierung für eigene Befindlichkeit als förderliche Wirkungen der Achtsamkeit hervor. Die damit gewählte Perspektive betrachtet Achtsamkeit gewissermaßen „bewusstseinstechnisch“. Dies hat den großen Vorteil, allergische Reaktionen auf Religiöses zu vermeiden und Achtsamkeitspraxis somit Menschen zugänglich zu machen, die keinen inneren Zugang zu traditionellen oder neuen spirituellen Wegen haben.

Gleichzeitig weist Ralf Schneider auf die Verankerung der Achtsamkeit in älteren spirituellen Traditionen hin. So möchte ich eine spirituelle, durch die christlich-kontemplative Tradition geprägte, Perspektive auf Achtsamkeitspraxis darstellen. Dabei liegt mir einerseits an dem Benennen unterschiedlicher Grundbewegungen in Psychotherapie und spiritueller Praxis, andererseits möchte ich jedoch zeigen, wie diese Unterscheidung wechselseitig befruchtend wirken kann.

Ich-Stabilität und Ich-Überschreitung

Die beschriebenen förderlichen Wirkungen der Achtsamkeit sind völlig unstrittig. Sie dienen aus dem Blickwinkel der Psychotherapie der Reifung einer erwachsenen Persönlichkeit. Kennzeichen dieser ist die Entwicklung eines stabilen Ichs, welches im Blick auf sich selbst, wie auf äußere Herausforderungen angemessen zu reagieren vermag. Hierbei spielen Selbstmanagement, Steuerungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit eine große Rolle.

Der Fokus in der spirituellen Praxis unterscheidet sich in gewisser Weise von dieser Perspektive: Es geht in der spirituellen Praxis stärker um die Überschreitung, die Transzendierung der Person als um deren Stabilisierung. Ein alter Text der mittelalterlichen deutschen Mystik beschreibt dies so:

Wenn der Mensch in der Übung der inneren Einkehr steht (Achtsamkeitspraxis) hat das menschliche Ich für sich selbst nichts. Das Ich hätte aber gerne etwas, und es wüsste gerne etwas, und es wollte gerne etwas. Bis dieses dreifache „Etwas“ in ihm stirbt, kommt es den Menschen gar sauer an.

Das geschieht nicht an einem Tag und auch nicht in kurzer Zeit, man muss dabei aushalten, dann wird es zuletzt leicht und lustvoll (Johannes Tauler)

Hier wird das Ich als eine Instanz beschrieben, die einerseits ruhelos getrieben von Konzepten, Wünschen und Bedürfnissen ist und gleichzeitig kontrollieren und bestimmen möchte. Achtsamkeit, Innehalten und die Wendung nach Innen machen dies ja zunächst auch oft schmerzlich spürbar: Ich spüre innere Zerrissenheit und Zerstreutheit ja gerade in Momenten der gesuchten Stille. Hier wird mir deutlich, wie wenig ich Hausherr im eigenen Haus bin und meine Gedanken in der Regel nicht mal für eine Minute zum Schweigen bringen kann. Die spirituelle Antwort stellt das Überschreiten dar. Die spirituellen Traditionen kennzeichnen dieses Überschreiten als eine Art Loslassen und beschreiben es mit durchaus drastischen Bildern des Sterbens: die christliche Tradition spricht vom „Tod des alten Adam“, „Stirb auf Deinem Meditationskissen!“ heißt es im Zen-Buddhismus. Hier steht also nicht die Stabilisierung und Ermächtigung zur Selbstwirksamkeit, sondern das Überschreiten der Person im Vordergrund. Spirituelle Praxis hat damit einen Zug zum „Trans-Personalen“, dem, was die Person übersteigt und überschreitet und was gleichzeitig unser aller Person-sein zu Grunde liegt.

Von der Verankerung im Ich zur Verankerung im Wesen und Sein

Was aber meint dieses Überschreiten? Erforschen Sie es selbst: Was bestimmt Ihr Bewusstsein? In unserem Tagesbewusstsein sind wir zumeist mit unserer Ich-Aktivität identifiziert. Wir wollen etwas, beabsichtigen etwas, planen etwas, vermeiden etwas. Gelingt uns das, fühlen wir uns „gut“. Misslingt uns dies, fühlen wir uns tendenziell „schlecht“. Ist unser Bewusstsein in unserem „Ich“ gegründet und verankert, sind wir auf Gedeih und Verderb auf Leisten und Gelingen angewiesen und davon abhängig.

Achtsamkeitsübung im Kontext spiritueller Praxis will den Weg in einen Erfahrungsraum weisen, der davon unabhängig ist: Ein selbstverständliches, einfaches, absichtsloses Da-sein-dürfen. Wenn z.B. die christliche Tradition von Rechtfertigung spricht, meint sie nicht eine moralische Wiedergutmachung, sondern die Hinführung und Einweisung in ein solches Lebensverständnis. Ich muss mir mein Leben nicht verdienen, ich darf da sein – und dies vor aller Leistung, allem Gelingen und allem Scheitern. Spirituelle Übungswege führen damit in Kontakt mit der Tiefendimension des Daseins. Dieser Tiefendimension der Wirklichkeit werden unterschiedliche Namen verliehen. Die buddhistische Tradition versteht dies als „wahres Wesen“ und Buddhanatur, die christliche spricht von Gotteskind- und Erbenschaft. Diese ist oft ausschließlich regressiv verstanden worden. Jemandes Kind zu sein bedeutet aber nicht nur bedürftig und klein, angewiesen und ohnmächtig zu sein, sondern ebenso, zu dieser Familie zu gehören und Erbe zu werden. Wir gehören also zur Familie „Gott“. Dies ist unser Familienname. In diesem Bild drückt

die christliche Tradition gerade existentielle Zugehörigkeit aus. Wir sind in unserem Wesen also gar nicht von Gott und dem Sein selbst getrennt. Dabei kommt es jedoch weniger auf die religiösen Vorstellungen und Sprachbilder an, in denen ich dies ausdrücke, als vielmehr auf diese Erfahrung der Tiefendimension der Wirklichkeit. Es geht also nicht um ein „Für-wahr-halten“ einer speziellen religiösen Tradition, sondern um die Erfahrung dieser Wirklichkeit. Alle Religion weist uns in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen auf dieses eine Licht, auf diese eine Wirklichkeit hin. „Geh` in deinen eigenen Grund, denn in deinem eigenen Grund sind dein Sein und Gottes Sein ein Sein.“ nennt dies Meister Eckardt, ein weiterer Ahnherr christlicher Mystik. Der Weg in diesen Grund, in diese Erfahrung der Einheit und Verbundenheit alles Lebendigen stellt die Achtsamkeitspraxis dar.

Achtsamkeit als Weg in die Erfahrung der Einheit

Wie in Ralf Schneiders Artikel beschrieben gibt es zwei Grundformen der Achtsamkeitsübung. Diese finden sich in praktisch allen religiös-spirituellen Traditionen. Die eine könnte man als Bewusstseinsvereinheitlichung bezeichnen. Auf diesem Weg wird mit einem Fokus Achtsamkeit eingeübt. Dies sind klassisch entweder die Atembetrachtung oder die Übung mit einem Wort oder Satz. Dieser Satz kann eine klassische Formel wie beim Herzensgebet der Ostkirche (Herr Jesus Christus, erbarme dich unser) oder ein beliebiges Wort (Ruhe, Da-sein, Schalom, Ein-aus oder ein Gottesname) sein. Dabei geht es nicht darum, diesem Satz oder Wort nachzudenken, sondern innerlich dessen Klang zu lauschen, bis ich ganz dieser Klang werde, also eins mit ihm bin. Die andere Grundform geht den entgegengesetzten Weg: Anstatt meine Achtsamkeit auf etwas Bestimmtes zu richten, versuche ich, auf nichts innerlich zuzugreifen. Dies ist der Weg der Bewusstseinsentleerung. Ich greife innerlich auf nichts mehr zu, leere mein Bewusstsein. Dazu beginne ich zunächst damit, meinen Körper zu spüren, dann mein Spüren über diesen hinaus zu weiten, ohne meine Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes zu richten. Reines Spüren, reines Gewahrsein, reine Präsenz. Und immer, wenn ich dort herausfalle, also meine Aufmerksamkeit wieder etwas fokussiert, auf etwas zugreift, beginne ich wieder mit dem Spüren und weite es erneut. Dies nennt die christliche Mystik „Schauen ins nackte Sein“, „reines Gewahrsein“ und „ liebendes Aufmerken“. Im Zen wird dies Shikantaza genannt. Beide Wege führen in die oben beschriebene Erfahrung der Einheit und Verbundenheit, einem „Raum“, in dem das Fragen endet, sich Frieden ausbreitet und der durch eine unzerstörbare Stille gekennzeichnet ist. Dies beschreibt Johannes Tauler so:

Der Mensch lasse die Bilder Dinge ganz und gar fahren und mache und halte seinen Tempel leer. Denn wäre der Tempel entleert und wären die Phantasien, die dich ständig besetzt halten draußen, so könntest du ein Gotteshaus werden und nicht eher, was du auch tust.

Und so hättest du Frieden deines Herzens und Freude und dich störte nichts mehr von dem, was dich jetzt ständig stört, dich bedrückt und dich leiden lässt.

Werde, der du bist!

Eine jüdische Erzählung beschreibt dies so: Rabbi Susja lehrte: Wenn ich dereinst vor meinem Schöpfer stehe, wird dieser mich nicht fragen: „Susja, warum bist du nicht wie Mose gewesen?“ Er wird mich auch nicht fragen: „Susja, warum bist du nicht wie mein großer Prophet Elia gewesen?“ Er wird mich nur eines fragen: „Susja, Mensch Susja, warum bist du nicht Susja gewesen?“

Spirituelle Achtsamkeitsübung will uns in die Erfahrung dessen führen, was wir zutiefst schon immer sind. Wir haben vergessen, wer wir sind. Wir definieren uns durch fremde und eigene Ansprüche und haben dadurch den Zugang zu unserem grundsätzlichen Sein, unserem wahren Wesen verloren. Im Kontakt mit einem Neugeborenen scheint davon oft etwas auf. Wir werden des Wunders des lebendig Seins gewahr, dessen Unverfügbarkeit, Einmaligkeit, Kostbarkeit, aber auch dessen Verletzlichkeit und Ausgesetztheit. Auf unseren Wegen des Erwachsenwerdens verlieren wir zumeist dieses Bewusstsein von uns selbst als etwas Wunderbarem. Das ist nötig, um eigenständige Person zu werden. Denn dies geschieht gerade durch Abgrenzung, durch das Betonen des Eigenen. Aber unser menschlicher Entwicklungsweg endet nicht auf der Ebene des personalen, erwachsenen Bewusstseins. Er führt darüber hinaus in die Erfahrung trans-personalen Bewusstseins und in die Erfahrung der Nondualität, der Einheit, der Unio-mystica; wie dies christlich genannt wird. „Werde, der du bist“ handelt von diesem Weg durch alle Verkrustungen lebensgeschichtlich erworbener Verletzung in die Erfahrung der Kostbarkeit jeden Augenblicks, des Wunders des Lebendig Seins und der selbstverständlichen Zugehörigkeit zum Sein selbst. Gerade für abhängigkeitserkrankte Menschen, innerlich oft vom Ertrinken bedroht, kann diese Erfahrung des unbedingten da sein Dürfens vielfältige heilsame Impulse freisetzen.

Geh deinem Gott entgegen – bis hin zu dir selbst (Bernhard von Clairvaux)

Ein letzter Aspekt: Es könnte scheinen, als seien die psychotherapeutische Zielrichtung der persönlichen Reifung und Ermächtigung und die spirituelle Zielrichtung des Überschreitens des Ichs Gegensätze. Authentische spirituelle Wege verweisen jedoch nicht auf ein Wolkenkuckucksheim, sondern immer auf die reale Gegenwart. Mystiker und Mystikerinnen aller Traditionen wussten immer um den Zusammenhang von Selbst- und Gotteserfahrung. Diese sind wir zwei Seiten einer Medaille, untrennbar zueinander gehörig. So weiß spirituelle Begleitung um die Gefahr des „spirtual bypassings“. Immer wieder erleben Menschen spirituelle und Glaubenspraxis als Verführung, ihre personalen Herausforderungen zu umgehen: „Jetzt, wo ich spirituell oder gläubig wurde, brauche ich keine Therapie mehr.“

Religiös-spirituelle Praxis als Ausweichen vor der harten Konfrontation mit mir selbst. Authentische spirituelle Erfahrung ist aber nie ohne Selbsterfahrung zu haben. Um mein Ich zu lassen, muss ich es erst einmal entwickelt haben. Achtsamkeitspraxis im Kontext eines spirituellen Weges verweist immer wieder auf das, was in diesem Moment ist. Sie verwandelt nicht die äußere Wirklichkeit. Sie verwandelt mich, auf dass ich diese Wirklichkeit verwandelt wahrzunehmen vermag.

Sie führt mich in die Erfahrung des selbstverständlichen Daseins in dieser einen Wirklichkeit:

Da sein, einfach da sein, einfach da sein dürfen. Einfach da sein dürfen, mit allem was da ist, sich zeigt, zu mir gehört. Einfach da sein und etwas von dem großen „Ja“ hören, das zu dir, mir und allem Lebendigen gesagt ist. Einfach da sein und ein „Ja“ zu mir, meinem Leben, so wie es geworden ist, zum Leben und allem Lebendigen finden.